Seit nahezu vier Monaten bin ich nun im neuen Amt als Senatskoordinator für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und werde mit einer Vielzahl an Themen konfrontiert. Diese Fülle an unterschiedlichen Informationen ist bei mir gerade die große Herausforderung. Sie zu bewältigen und systematisch einzuordnen, das nimmt gerade viel Zeit ein und kostet viel Kraft.
Eine Frage beschäftigt mich dabei immer wieder: “Wie werden Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft wahrgenommen, welches Bild hat man von Menschen mit Behinderungen?” Denn das scheint eine größere Angelegenheit zu sein und ist für mich eine Erklärung für die vielen Barrieren, die Menschen mit Behinderungen haben. Denn in den Köpfen vieler Bürger scheint noch der Gedanke vorzuherrschen, dass Menschen mit Behinderungen bemitleidenswerte Wesen sind, welche unsere Solidarität und Fürsorge verdienen. Hier schwebt dann vielen Menschen ein Bild vor, so wie man es auch finden kann, wenn man bei der Bildersuche unter “behindert” googelt und dann freundlich dreinblickende Menschen sieht, deren Behinderung auch sichtbar ist. Gegen das “freundlich” mag nichts einzuwenden sein, aber es sind diese stereotypischen Bilder, die Mitleid erregen und dazu führen, dass man etwas tun möchte. Es ist genau auch diese Absicht, die dahinter steckt, denn zumeist werben bestimmte Organisationen damit und rufen entsprechend zu Spenden auf.
Hier beginnt der Spagat: Einerseits reden wir gerne von Inklusion und dieser Begriff inzwischen scheint sich allmählich in den Köpfen der Bürger festzusetzen. Das ist erfreulich, weil wir damit Menschen mit Behinderungen mehr in das Leben aller Menschen mit einbeziehen und uns von den alten Bild der Fürsorge und auch Mitleid verabschieden können. Somit kämen wir dann zur wirklichen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Andererseits haben wir noch immer diese “alten” Bilder, die geprägt werden durch die Bildermacht der Medien und Google. Diese Bildermacht macht etwas mit uns: Solange wir Menschen mit Behinderungen nicht als “vollwertige” Mitglieder der Gesellschaft anerkennen, solange können sie sich auch nicht als vollwertige Mitglieder einbringen. Es ist keine Begegnung auf Augenhöhe. Der Blick geht nach unten, auf die Menschen mit Behinderungen, auf ihre Defizite, auf das was sie nicht können.
Wir alle kennen das: Wenn man uns nichts zutraut, wenn man uns nichts anvertraut, dann trauen wir uns auch nichts zu. Kleine Kinder sind darauf angewiesen, dass man sie behutsam und Stück für Stück in die Gesellschaft einführt. Sie entwickeln und entfalten sich unter der Obhut ihrer Eltern und ihrem sozialen Umfeld. Eine wichtige Basis ist, dass man ihnen Dingen anvertraut und ihnen zutraut, Dinge zu tun. Der Satz oder die Frage “Möchtest Du einmal Pilotin werden?” oder “Möchtest Du einmal Bürgermeister werden?” kann Träume entstehen und Kindern Flügel wachsen lassen. Was aber sagt man einem Kind mit Behinderungen? Wie kann man hier Träume wecken, Visionen erzeugen?
Ich beobachte: Eltern von Kindern mit Behinderungen haben eine komplett andere Einstellung als die Eltern von “normalen” Kindern, also von Kindern ohne Behinderungen. Beäugt von ihrem sozialen Umfeld und erwartungsgeschwängert von der Gesellschaft, tun Eltern von Kindern mit Behinderungen alles, damit ihre behinderten Kinder “normal” werden, sind froh und glücklich, wenn ihre Kinder die erwartete Norm erreichen. Normal bedeutet hier: Die Kinder können ihre Defizite dermaßen ausgleichen, sie haben quasi keine Behinderung mehr und liegen der Gesellschaft nicht mehr auf der Tasche. Die Kinder schaffen es also, die Erwartungshaltung der Gesellschaft zu erfüllen.
Das unterscheidet Eltern von Kindern mit Behinderungen von anderen Eltern. Würde man Eltern mit normalen Kindern sagen, ihre Kinder sind “normal”, wären die meisten von ihnen äußert unzufrieden oder beleidigt. Wer will denn schon “normale” Kinder? Die meisten Eltern wünschen sich besondere, andere, außergewöhnliche Kinder und sie würden quasi verrückt werden, wenn man ihnen sagt, ihre Kinder seien “normal”.
Es bedeutet folglich, dass man von Kindern mit Behinderungen erwartet, dass sie sich so fügen und anpassen, dass sie der Gesellschaft nicht zu sehr zu Last fallen. Das ist die Pflicht. Für die Kür sind dann die anderen Kinder zuständig. Fliegen und Träumen, das dürfen diese.
Ich gebe zu, es kostet als Mensch mit Behinderungen unbändig viel Kraft und Mühe, einen “normalen” Zustand zu erreichen, die Defizite der eigenen Behinderung auszugleichen, den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Es ist eine enorme Leistung und viele schafft das auch nicht. In diesem Kontext muss auch auch die Frage gestellt werden dürfen: Ist es unsere “Bestimmung” oder ergibt sich unsere Daseinsberechtigung nur darin, den Erwartungen und den Normen einer Gesellschaft zu gerecht zu werden? Der englische Philosoph Oscar Wilde (1854 – 1900) hat einmal geschrieben: “Das Gewöhnliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert.“
Man könnte jetzt bösartig sein und denken, dass wenn Menschen mit Behinderungen normal sind, dann sichern sie den Bestand unser Gesellschaft und das ist etwas wirklich Gutes. Aber: Ist das alles, was man von Menschen mit Behinderungen erwarten kann? Sie sollen ihre Defizite ausgleichen und damit den Normen gerecht werden? Aus meiner Sicht berauben wir uns den phänomenalen Fähigkeiten von Menschen, hier besonders auch von Menschen mit Behinderungen, indem wir ihre Einzigartigkeit, ihre Vielfältigkeit nehmen. Der Fokus alleine auf die Defízite und den Ausgleich derer unterbindet möglicherweise besondere Fähigkeiten an anderer Stelle. Was wäre, wenn wir den Fokus anders ansetzen, wenn wir die Defizite Defizite sein lassen und uns darauf konzentrieren, welche Stärken und Fähigkeiten eine Person hat? Was wäre, wenn wir aufhören, Menschen bestimmte Vorgaben und Erwartungen zu setzen, um die Norm zu erreichen und stattdessen schauen, was ein Mensch besonders gut kann?
Ich persönlich bin überzeugt, dass der Fokus den besonderen Stärken und Fähigkeiten gelten sollte und wir so besonders Menschen mit Behinderungen eine bessere Chance zur Teilhabe an unsere Gesellschaft geben. Denn das ist Selbstbestimmung! In diesem Zusammenhang würde ich mich auch nicht wundern, wenn wir bei dem einen oder anderen dann auch besondere Begabungen entdecken, die zu neuen und anderen Erkenntnissen führen.
Soweit sind wir leider noch lange nicht. Wie ich bei einem Besuch bei der Hamburger Schulbehörde erfahren konnte, gibt es zwar eine Ombudsstelle für hochbegabte Kinder – auch für Kinder mit Behinderungen -, aber nicht alle hochbegabte Kinder werden “entdeckt”. Es könnte sogar sein, dass eine Hochbegabung zu einer “Behinderung” führt, da hochbegabte Kinder als anfällig für Minderleistungen und problematischem Sozialverhalten gelten, so dass Eltern bei ihren Kindern dies oft mit Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen verwechseln.
Das Thema Begabung und Behinderung wird uns also noch lange Zeit beschäftigen. Wir erkennen einerseits, dass Begabung und Behinderung eng zusammenhängen und bedingen können, andererseits in den Köpfen vieler Menschen unvorstellbar ist, dass Menschen mit Behinderungen begabt und talentiert sein können. Was müsste also getan werden, damit sich hier etwas ändert? Ein erster Schritt könnte sein, dass man aufhört, an den Defiziten zu doktern. Der weitere Schritt, der folgen müsste, ist, Diagnose-Instrumente zu entwickeln, die auch bei Menschen mit Behinderungen gelten können. Hier wird es dann wichtig, dass eine sinnvolle Förderungen den Mensch mit Behinderungen begleitet, damit er seine Fähigkeiten zu Stärken hin entwickeln kann. Letztlich brauchen wir auch Vorbilder. Menschen wie Frida Kahlo, Daniel Radcliffe oder Stephen Hawking, die zeigen, dass Menschen mit Behinderungen auch Begabungen haben und zur Geltung bringen können.
Wir sehen, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und somit Inklusion als Prozess zur Gleichstellung und Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen ist ein vielschichtiges Thema. Es reicht nicht zu sagen “Inklusion ist toll!”, solange nur ein Teil der Gesellschaft das annimmt, während der Rest eher anteilnahmslos zuguckt. Es ist zu verstehen, dass Inklusion uns alle angeht und jeder Einzelne gefordert ist, sich daran zu beteiligen. Es fängt mit dem einfachen Schritt an, die Bilder in unsere Köpfen neu zu besetzen. Sind Sie dabei?
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