Mit der Novellierung des Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) fing 2001 alles an. Das SGB IX enthält die Vorschriften zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland und sollte ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik einleiten. Das Motto war: Weg von der Fürsorge, hin zur Selbstbestimmung behinderter Menschen.
Bereits ein Jahr später folgte das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und formulierte vorrangig für die Träger öffentlicher Gewalt auf Bundesebene, wie diese eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen beseitigen bzw. verhindern. Für gehörlose Menschen ist besonders der § 9 vom BGG interessant, regelt dieser das Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und welches wir Gehörlose in Deutschland faktisch als Anerkennung der Gebärdensprache feiern. Mit dem BGG gingen neben der Herstellung zur allgemeinen Barrierefreiheit auch Verordnungen zur barrierefreien Informationstechnik wie auch zur Kommunikation (KHV) einher, welche bspw. den konkreten Einsatz von Gebärdensprach-Dolmetscher oder Kommunikationsassistenten regeln. Die Bundesländer folgten dem BGG mit eigenen Gleichstellungsgesetzen, die im Wesentlichen den des Bundes glichen.
Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), welches 2006 heraus kam, sehe ich in dieser Reihe, da dort Diskriminierung jeglicher Art geahndet werden und erstmals auch auf privatwirtschaftlicher Seite Anwendung fand. Alle die hier aufgeführten Gesetze wurden schließlich mit dem UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) abgerundet, welcher als ein völkerrechtlicher Vertrag gilt und am 24.Februar 2009 von Deutschland ratifiziert wurde.
Wie wir sehen, haben wir in Deutschland in den letzten Jahren viele Gesetze erlassen, die eine umfassende Teilhabe behinderter Menschen ermöglicht. Rein von der Theorie sollten wir uns hierzulande nicht beklagen dürfen. Wenn wir aber in der Praxis schauen, erkennen wir noch immer viele Probleme im Alltag behinderter Menschen und sehen, dass es noch sehr an der Umsetzung hapert.
In einem Protestsong beschreibt der Rapper Jeff BAM Hayokid treffend, wie die Lebenssituation der Menschen mit Behinderung in Deutschland ist. Auszüge aus dem Lied sind bspw. “Niemand nimmt uns ernst” oder “Wir wollen dabei sein, wollen frei sein, wollen mittendrin sein”. Der Kern seiner Aussage ist: “Wir sollten alle der Realität ins Auge sehen, Barrierefreiheit gibt es noch nicht, willkommen in der Realität!”. An die Menschen ohne Beeinträchtigung richten sich dann die Worte: “Macht die Augen auf! Seht ihr es immer noch nicht oder wollt ihr, dass ihr es nicht seht?”. An die Adresse der Politiker richten sich dann diese Worte: “Ihr sprecht von AGG, BGG, BRK, SGB. Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass wir das verstehen?”. Das Video ist vom Mai 2012, auf YouTube1 mit Untertitel und auch in Gebärdensprache2 zu finden und hat noch nichts an seiner Aktualität verloren.
Die Politik hat inzwischen auf die vielen Beschwerden reagiert und nachgesteuert. Das BGG wurde 2017 novelliert und auch im SGB IX gab es viele Änderungen. Seit dem 01. Januar 2018 gibt es in Form des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) eine komplette Neufassung des SGB IX, welche stufenweise in 2020 noch Änderungen aufnimmt. So haben gehörlose Menschen wesentliche bessere Chancen, auch im privaten Umfeld finanzielle Mittel für den Einsatz von Gebärdensprach-Dolmetscher zu bekommen, da die Einkommens- und Vermögensgrenzen erheblich gesenkt wurden. Aber auch hier gilt noch immer das (langwieriges) Prozedere einer Antragsstellung und die Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Ich nenne das “Hosen runterlassen” und einer Solidargemeinschaft wie Deutschland unwürdig. Wir erkennen, dass wenn es um die Inklusion gehörloser und hochgradig schwerhöriger Menschen in unserer Gesellschaft geht, dann erweisen sich die vorgeschlagenen und teilweise praktizierten Lösungen häufig als unzureichend. Gehörlose und hochgradig schwerhörige Menschen bleiben in unserer Gesellschaft oft weiterhin außen vor.
Aus diesem Grunde haben wir vom Gehörlosenverband Hamburg einen 5-Punkte-Plan entwickelt, der klar und konkret nennt, wie die gesellschaftliche Teilhabe gehörloser und hochgradig schwerhöriger Menschen gelingen kann:
1. Der Individuelle Aspekt
Jedem Gehörlosen und hochgradig Schwerhörigen stehen generell und ohne Einkommensprüfungen im Monat 15 Stunden an Gebärdensprach-Dolmetscher*nnen oder Schriftsprach-Dolmetscher*nnen zur Verfügung.
2. Der gesellschaftliche Aspekt
Organisationen von Veranstaltungen, Gremienarbeit und Ähnliches können auf einen Topf zurückgreifen, der die Kosten für Gebärdensprach-Dolmetschen, Schriftsprach-Dolmetschen und / oder andere Kommunikationshilfen übernimmt.
3. Der Aspekt des sozialen Umfeldes
Wir sind überzeugt, dass die Gebärdensprache ein bereicherndes Element für unsere Gesellschaft darstellt und ein selbstverständlicher Bestandteil werden soll. Deshalb erwarten wir, dass alle Menschen, die unmittelbar mit Gehörlosen oder hochgradig Schwerhörigen zu tun haben, kostenlose Kurse in Gebärdensprache erhalten können.
4. Der Aspekt des barrierefreien Informationszuganges im öffentlichen Raum
Informationen im öffentlichen Raum müssen immer sowohl akustisch als auch visuell ausgerichtet sein (2-Sinne-Prinzip). Dies gilt neben den akustischen auch für schriftliche Informationen, die es zu visualisieren gilt.
5. Der Aspekt zum Nachteilsausgleich
Als eine Form des Nachteilsausgleichs sollen gehörlose und hochgradig schwerhörige Menschen eine Art Gehörlosengeld erhalten, welches die Mehrkosten oder Ausgaben von Gehörlosen und hochgradig Schwerhörigen abdeckt, die eine hörende Person nicht hat.
Dass dies keine utopische Forderung ist, erkennen wir daran, dass bspw. in Hamburg bereits seit 1971 ein Blindengeldgesetz (HmbBlinGG)3 existiert. Es handelt sich um eine “Leistung für blinde oder stark sehbehinderte Menschen, um den durch die Behinderung bedingten Mehrbedarf auszugleichen. Die Leistung wird unabhängig von Alter, Einkommen und Vermögen gezahlt und beträgt monatlich 563,53 €.
Diese 5 Punkte stellen einen ganzheitliche Ansatz dar und es erscheint wenig sinn- oder wirkungsvoll, hier eine punktuell eine Auswahl einzelner Maßnahmen vorzunehmen. Erst die Bündelung dieser Maßnahmen kann eine Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe gehörloser und hochgradig schwerhöriger Menschen nach der UN-BRK sicherstellen – so die Auffassung vom Gehörlosenverband in Hamburg.
Dieser 5 Punkte-Plan (5PP) wurde am 29.März 2019 offiziell vorgestellt und erfährt querbeet durch die Politik und auch Behörden viel Resonanz und Beachtung. Wir erkennen auch, dass wir als Interessenvertretung deutlich in der Wahrnehmung und Akzeptanz gestiegen sind und beobachten, dass der 5PP oft als Grundlage für Gespräche genutzt wurden. Anfangs hatte ich befürchtet, man würde uns ob der umfangreichen Forderungen nicht mehr ernst nehmen. Innerhalb des Verbandes haben wir lange und ausgiebig das Papier besprochen und diskutiert und haben den Mut aufgebracht, ein vollständiges Konzept zu veröffentlichen, auch weil wir weg wollten von diesen vielen kleinen zermürbenden Detail-Diskussionen, die wenig Fortschritte einbrachten.
Die Veröffentlichung des 5PP stellt sich jetzt nach einem Jahr als eine richtige und inzwischen auch wegweisende Entscheidung dar, wie sich das in vielen Gesprächen im letzten Jahr gerade um die Novellierung des Hamburgisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Hamburgisches Behindertengleichstellungsgesetz (HmbBGG) zeigt. Ich schreibe das, auch wenn ich mir von dem HmbBGG viel mehr erhofft habe und erkenne, wie schwer es ist, konkrete Forderungen in ein Gesetz einzubringen, gerade auch, weil viele andere – zum Teil auch konträre – Forderungen zu den unsrigen im Raum stehen und man einen langen Atem wie auch ein geschicktes Agieren benötigt, um die vielen Interessen einzubringen. Eine der großen Herausforderungen ist es, die vielen Gesetze, die ich hier aufgeführt habe zu kennen und miteinander zu verknüpfen. Zu erkennen, welche Themen wo hinein passen und wo gibt es Überschneidungen, teilweise sogar Ausschlüsse.
Aus den viele Gesprächen seit der Veröffentlichung weiß ich nun: Unser 5PP stellt konzeptionell die Lebenswirklichkeiten gehörloser Menschen dar und ist eine große Hilfe, auf die Frage, wie kann Inklusion für gehörlos Menschen gelingen. Das ist eine gute Diskussionsgrundlage für alle Seiten und der 5PP dient als roter Faden für die politischen Gespräche. Aber was nicht gehen wird, das ist eine 1:1-Entsprechung und Umwandlung in ein eigenes Gesetz. Die Herausforderung bleibt also weiterhin für uns als politische Vertreter, in den vielen bestehenden Gesetzen so nachzusteuern und Forderungen einzubringen, so dass wir irgendwann einmal alle die Punkte im 5PP realisieren können. Man braucht eine langen Atem, Weitsicht, Geduld und Beharrlichkeit. Das habe ich gelernt. Willkommen in der Realität!
1 https://www.youtube.com/watch?v=8Kj-BcQ8E_w&t=115s, herausgegeben vom Verein Aktiv Barrierefrei Selbstbestimmt Leben e.V. aus Schleswig-Holstein
2 übersetzt von Knut Weinmeister
3 http://www.landesrecht-hamburg.de/jportal/portal/page/bshaprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlr-BliGGHArahmen&doc.part=X&doc.origin=bs&st=lr
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