Die Blicke vieler selbstbewussten Gehörlosen gehen in diesen Tagen verstärkt nach Frankreich. Zwei der renommiertesten und weltweit beachteten Veranstaltungen finden dort gerade statt. Anfang Juli war es zuerst die Kulturveranstaltung Clin d’Oeil in Reims, dann der WFD-Kongress in Paris, der vom Weltverband der Gehörlosen (WFD) organisiert wird und gerade tagt, während ich diese Zeilen schreibe.
In Reims stand die Kultur im Vordergrund und viele verschiedenartige, gehörlose Künstler sind dort aufgetreten. Neben großartigen Theater-Dramen konnte man viele kleine Kurzgeschichten und Comedies, aber auch akrobatische Darbietungen bewundern. Besonders eindrucksvoll ist mir aber der Auftritt von Sean Forbes und Signmark im Gedächtnis geblieben. Ich war sehr weit vorn, in Reichweite der Künstler und konnte den wummernden Bässen nicht entgehen. Nicht hören können und dennoch die Musik mit jedem feinsten Härchen fühlen, das ist schon ein anderes Musikerlebnis als es Hörende kennen – denn so laut erträgt es kein Hörender so weit vorne. Und wenn dann gehörlose Musiker in Gebärdensprache ihre Texte vortragen, es ist beeindruckend, es ist fantastisch. Musik und Gebärdensprache, das kann passen, aber bitte nur mit gehörlosen Künstlern – das zeigt Reims eindrucksvoll.
Im Gegensatz dazu ist der Kongress in Paris mehr den politischen Themen gewidmet. Der Leitgedanke der Veranstaltung ist: “Gebärdensprache ist ein Menschenrecht”. Entsprechend sind Themen wie Politik, Barrierefreiheit, Pädagogik und Linguistik dort Schwerpunkt des Kongresses. Im Vordergrund steht bei den Vorträgen der internationalen Austausch unter den führenden Köpfen der Gehörlosen-Community. Es ist spannend und lehrreich zu erfahren, mit welchen Problemen Gehörlose in anderen Ländern zu kämpfen haben und auch, welche verschiedene Lösungsansätze es gibt.
Bei beiden Veranstaltung schwebt ein “Geist”, der einen gestärkt und mit vollen Tatendrang wieder nach Hause gehen lässt. Der gemeinsame Austausch und die vielen kleinen Fortschritte wirken sich wie Doping aus, weil man das Gefühl hat, es gibt immer Wege und man kann gemeinsam doch die Welt der Hörenden verändern. Unsere Kultur, basierend auf der Gebärdensprache, ist ein starkes Zeichen und es gilt, dies der Welt da draußen, den Hörenden, den Nicht-Gebärdenden zu zeigen. Gerade unter den behinderten Menschen weltweit können die Gehörlosen mit ihrer Gebärdensprache symbolisch für das soziologische und soziale Modell stehen und damit deutlich ein Gegensatz zu dem vorherrschenden medizinischen Modell darstellen.
Weltweit müssen sich behinderte Menschen tagtäglich abmühen und gegen die Annahme ankämpfen, dass unser Leben als Behinderter ein ärmeres Leben darstellt und in unserer Biologie begründet ist. Es bedeutet, dass es sich um ein individuelles Problem handelt und wir selbst dafür verantwortlich sind, so wie wir sind. Aus dieser Annahme heraus ist eine Behinderung in erster Linie entsprechend eine Abhandlung des Gesundheitswesens und der öffentlichen Wohlfahrt, welches medizinisch gesehen zu behandeln gilt. Der hippokratische Eid verpflichtet Ärzte, entsprechend vorgegebener gesellschaftlichen Normen uns behinderte Menschen zu “reparieren”. Dabei werden auch viele unsinnige Versuche unternommen, um am Ende bitter enttäuscht zu sein, da manche Heilversuche ins Leere laufen oder sich der erwünschte Erfolg nicht einstellt.
Im Kontext zum medizinischen Modell steht auch der Fürsorge-Gedanke. Beides hängt zusammen und bedingt einander. Denn auch Fürsorge kann unterdrücken und bietet einen gesellschaftlichen Nährboden für Ungleichheit. Gut gemeint ist eben nicht immer auch gut gemacht. Jeder behinderte Mensch kann ein Lied davon singen, welches Gefühl eine verstärkte Fürsorge bspw. der Eltern hinterlässt: Man ist in der unterlegenen Rolle und kann kaum wirklich auf gleicher Augenhöhe kommunizieren. Oft sind gerade die unmittelbaren Angehörigen die schlimmsten Bemutterer und damit Unterdrücker einer möglichen Selbstbestimmung. Wer als Hörgeschädigter kennt nicht solche Sätze wie: “Ich sage es Dir später” oder “Das war nicht so wichtig”? Das sind sie, die subtilen Sätze, die uns abhängig machen und uns immer unter den Schutzmantel der Barmherzigkeit zurückfallen lassen, so wie Treibsand, den man auch fast nicht entrinnen kann. Und wenn man es dann dennoch wagt, dem zu entkommen, wird man vom Zorn der Undankbarkeit getroffen. Denn der Kern im Gedanken der Fürsorger ist: Wir müssen sie beschützen, da sie sich selbst nicht zu helfen wissen und auf sich aufpassen können.
Wenn wir wirklich auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren wollen, wenn wir wirklich gleichberechtigt teilhaben wollen, dann müssen wir uns klar darüber werden, dass Behinderung eine Angelegenheit der Menschenrechte ist.
Hierzu gibt es eine sehr interessante und einprägsame Rede von einem norwegischen Abgeordneten, der als erster Rollstuhlfahrer dort in das Parlament einzog. Aufmerksam wurde ich auf diese Rede von dem Behinderten-Aktivist Lars Ødegård durch Christiane Link, welche seine Rede ‚From Pathology to politics‘ (auf deutsch: “Von der Krankheitslehre zur Politik”) übersetzt hat. Ich werde hier einzelne Auszüge aus dieser deutschen Übersetzung nennen, weil sie mein Denken zum Thema Behinderung sehr geprägt hat.
Lars Ødegård sagt, dass “Gleichberechtigung […] nicht [bedeutet], dass Leute gleich sind oder gleich werden. Im Gegenteil, es bedeutet, dass Leute unterschiedlich sind, aber dennoch gleichberechtigt.” Das ist eine fundamental wichtige Aussage. Denn wenn unsere Gesellschaft die einfache Tatsache nicht begreifen will, dass Menschen unterschiedlich sind, dann bleibt “die Chance, Gleichberechtigung und volle Teilhabe zu erreichen, nur ein Traum.”
Derzeit leben wir in einer Gesellschaft, die unsere Umwelt entwickelt und konstruiert als seien wir alle gleich. Das wirkt sich für viele von uns negativ aus, da es sich um ausgrenzende Lösungen für die von uns handelt, die eine andere Biologie als die der Mehrheit haben. Eine solche Ausgrenzungspolitik hat natürlich auch Auswirkungen auf das Verhältnis von anderen Menschen zu uns. Uns werden spezielle Plätze zugewiesen, meistens am Rande, oder uns werden andere Eingänge zugeteilt, so dass wir nicht stören und man uns übersehen kann. Wir bekommen gesonderte Angebote, die andere nicht bekommen. Nehmen wir hier bspw. das Fernsehen, was uns Gehörlosen im Schnitt wöchentlich eine Sendung von 30 Min. zubilligt. Lars Ødegård stellt hierzu die berechtigte Frage: “Ist das Teilhabe? Ist das Gleichberechtigung?” und führt fort, dass dieser Unterschied auch das Verhältnis zu uns selbst beeinflusst. Denn: Wir sind nicht da, wo die anderen sind und das macht natürlich etwas mit uns: “Es berührt unser Gefühl der Selbstachtung. Es macht uns ungleich.”
Ausbrechen aus dieser Ungleichheit können wir nur, wenn wir akzeptieren, dass nicht die Behinderung das Problem ist, sondern die Einstellungen und Barrieren, die uns als Behinderte vom Rest der Gesellschaft ausschließen. Letztlich ist es das Ziel eines jeden Menschens, so zu leben, wie er es in der Lage ist und es auch möchte – und nicht so zu leben wie andere meinen, er es zu leben hat. Hierzu gehört auch, dass man sein Leben zusammen mit anderen leben möchte, in einer Umgebung, die man selbst gewählt hat, und nicht beschränkt auf eine Umgebung, von der andere meinen, dass man dort zu leben habe.
Es sind starke und machtvolle Worte, die Lars Ødegård in seiner Rede vor dem norwegischen Parlament setzt und noch heute hallen sie nach. Führt man allerdings vor Augen, dass die Rede bereits 2004 gehalten wurde und wir nun schon 2019 haben, dann muss man aber auch konstatieren, dass sich trotz einer Behindertenrechtskonvention bis heute sich nicht viel getan hat und die Ausgrenzungspraktiken sich offenbar tief in unserer Gesellschaft manifestiert haben, so dass diese Strukturen schwer aufzubrechen sind.
Es ist scheinbar noch immer in vielen Köpfen nicht angekommen, dass wir hier von Verletzungen von Menschenrechten sprechen, wenn wir behinderte Menschen ihre Teilhabemöglichkeiten rauben. Es bedarf sichtbare Signale und auch Symbole, wenn ein Umdenken in den Köpfen erfolgen soll. Aus meiner Sicht eignet sich die Kultur der Gehörlosen und ihre Gebärdensprache hervorragend dazu, sichtbare Elemente zu den Menschenrechten zu platzieren, die zu einem solchen Umdenken führen und letztlich zeigen, wie ernsthaft unsere Gesellschaft bestrebt ist, die Behindertenrechtskonvention umzusetzen.
Gehörlose Menschen als Symbolträger eine reichhaltigen und auch lebenswerten Gesellschaft, die Durchdringung der Gebärdensprache in einzelnen Gesellschaftsschichten als Messgrad für die Umsetzung der Menschenrechte? Eine solche starke Rolle für die Gehörlosen? Mir gefällt der Gedanke …
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