Freundschaften im digitalen Zeitalter

In meiner vorletzten Kolumne sprach ich vom Wandel der Kommunikation und den Auswirkungen auf die Deaf Community. Hier zeigte ich, dass sich durch neue Technologien vieles in den letzten 30 Jahren in der Kommunikation verändert hat und sich auch auf das Leben gehörloser Menschen auswirkt. Die Vielfalt an Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet Gehörlosen bessere Lebenschancen, weil eine Kommunikation in allen Lebenslagen unsere Einschränkungen in der allgemeinen Kommunikation aufheben und so die Möglichkeiten schaffen, nun mit Hörenden bspw. via Textnachrichten zu kommunizieren. Man kann so die mündliche Kommunikation umgehen und verschafft sich stückweise mehr Unabhängigkeit.

Zu den vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten gehören die Sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram. Laut einer Studie kann sich jeder dritte Mensch heute ein Leben ohne diese Medien nicht mehr vorstellen, so fest sind diese im Alltag integriert.

Was macht diese Medien so interessant, dass viele Menschen sich dem nicht entziehen können? Und: was machen diese mit uns, wie wirkt sich das auf unser Leben außerhalb der Medien aus? Oft denke ich, wir sind mit dem Netz verwoben, sind Teil von diesem, untrennbar verbunden, voll vernetzt. So wie es in dem Film MATRIX – wer kennt ihn nicht? Dort konnte man bald nicht mehr unterscheiden zwischen der Realität und der Virtualität, der Kneif-mich-und-tue-mir-weh-Welt und der Scheinwelt. Wobei, auch in der Scheinwelt kann man sich weh tun, weniger physisch, dafür aber psychisch. Welcher Schmerz nun der stärkere ist, ist wohl von Mensch zu Mensch verschieden.

Worin liegt die Faszination, sich anderen, oft auch wildfremden Menschen zu zeigen, ihnen mitzuteilen, was man gerade tut, Bilder von sich zu zeigen, sich permanent in diesen Netzwerken darzustellen? Menschen, die sich nicht kennen, beobachten nun gegenseitig ihr Leben – und zeigen davon logischerweise die schönen Seiten, die sie haben. Die weniger schönen Momente bleiben natürlich verborgen. Wichtig ist: Die Fassade glitzert und glänzt. Je tiefer man in diese Scheinwelt eintaucht, desto größer ist der Drang, noch mehr Teil davon sein zu wollen. Das Ganze klingt alles sehr persönlich, aber eigentlich ist es das Oberflächlichste, was wir Menschen gerade tun können. Denn: Die Sozialen Medien wie Facebook registrieren genau, worauf wir reagieren, analysieren unsere Interessen und lernen unsere Ansichten kennen. Das führt dazu, dass wir Inhalte vorgesetzt bekommen, die uns gefallen und die zu uns passen, so dass wir uns bestätigt fühlen und die uns dazu verleiten, länger auf den Plattformen zu verweilen. Wir drehen uns in unserer Filterblase quasi um uns selbst und denken, die dort gezeigte Wirklichkeit ist die Realität. Wir bekommen nicht mehr mit, dass es außerhalb unserer Filterblase auch andere Interessen und Standpunkte gibt.

Wir binden uns entsprechend an Menschen, die (scheinbar) ähnliche Neigungen, Interessen und Meinungen haben. Treffen wir auf andere, weniger Gleichgesinnte, so nennen wir relativ klar und offensichtlich unsere Ansichten, um uns abzugrenzen. Der Ton spielt dann weniger eine Rolle, schließlich spielt sich alles weit weg irgendwo im Netz ab und die Wahrscheinlichkeit, eine Person von Angesicht zu Angesicht in der Realität zu treffen, ist gedanklich weit weg. So vergisst man zuweilen seine gute Stube und gibt sich Formulierungen oder Aussagen hin, die man unter „normalen“ Umständen so von Angesicht zu Angesicht nie nennen würde.

Ich schreibe bewusst „normal“ in Gänsefüßchen, denn wie lange können wir noch davon sprechen, dass die virtuelle Welt nicht „normal“ ist? Ich glaube, unsere Kinder, die jetzt mit den digitalen Medien anfangen, haben eine ganz andere Vorstellung davon, wie unsere Welt funktioniert und werden diese Trennschärfe zwischen realer und virtueller Welt nicht mehr kennen und begreifen. Bewusstsein, äußere und innere Welt – wie werden unsere Kinder das definieren und nutzen? Es ist jetzt für mich schwer vorstellbar.

Ich frage mich: Wie gehen sie mit Erfahrungen um, wie ich sie erlebe? Man lernt im Netz neue Menschen kennen, freut sich über viele Gemeinsamkeiten. Aber nicht nur neue Kontakte entstehen. Auch alte, verloren geglaubte Kontakte lassen sich durch die vielfältigen Verflechtungen der Netzwerke wiederfinden. Man freut sich wahnsinnig, weil viele Erinnerungen an gemeinsam erlebten Geschichten wieder neu im Gedächtnis auftauchen. Man erkennt und begreift, wir haben eine gemeinsame Geschichte, welche uns zeigt, wir sind eine Generation mit ähnlichen Werten, was uns eng verbindet. Diese enge Verbundenheit entsteht gerade auch dadurch, weil man von früher her ein vertrautes Miteinander hatte. Hier rede ich von der real erlebten Welt, aus einer Zeit, in der es eine virtuelle so nicht gab, wie wir es jetzt über die Soziale Medien vorgegaukelt bekommen. Das Spannende ist nun: Wir projektieren unsere alten Erlebnisse in die Soziale Medien hinein und erleben die alte Zeit quasi wieder. Auch wenn es vielleicht nur Kopfkino ist, es „macht“ was mit uns. Denn auch ohne physische Anwesenheit kann unser Kopf derart unsere Emotionen steuern und beeinflussen, so dass aus der virtuellen Welt heraus wieder in die reale Welt eintauchen – zumindest glauben wir das und sehen den anderen vor unserem geistigen Auge. Diese Emotionalität geht so weit, dass wir jeden Fingerzeig, jedes Wort, jeden Smiley rauf und runter interpretieren und das dann – logo! – zu unseren Gunsten umdeuten. Es kann derart ausarten, dass wir regelrecht Glücksgefühle empfinden, sobald wir eine Nachricht von der ausgewählten Person erhalten.

Es gibt nun noch einen weiteren, zumeist unterschätzen Effekt: Durch die Sozialen Medien erliegen wir immer mehr der Versuchung, dass die Welt da draußen unendlich erscheint und plötzlich ungeahnte Kontakt-Möglichkeiten entstehen. Dadurch ist plötzlich die reale Welt eine andere, sie ist nun nicht mehr die einschränkende und bekannte Welt, sondern sie gewinnt mit der virtuellen Welt eine neue Dimension, die quasi alles möglich macht. Hinter jeder Ecke in der virtuellen Welt lauert eine neue Überraschung, treten neue Reize hervor, der sich nur wenige Menschen wirklich entziehen können. Wer erwischt sich nicht dabei, sich der stumpfen Eintönigkeit des Alltags zu entziehen und sich zwischendurch in ein emotionales Abenteuer zu stürzen? Alles ist nun möglich!

Der eigene Partner wird nun zu einem nicht völlig erfüllenden Angebot, ja bis hin zu einer Belastung, da er diesen möglichen Erweiterungen der virtuellen Welt nicht gegen halten kann. Süße, kleine Marotten, über die man bisher gelacht hat, werden zu Stolperfallen. Sie schüren Zweifel, flößen Angst ein, man tritt auf der Stelle und bleibt sein Leben lang so. Es stellt sich die Erkenntnis ein, dass der Partner mit „nur“ 70 Prozent deckungsgleich ist und man sich da draußen die anderen 30 Prozent für seine höchste Glückseligkeit zusammenschustern kann. Zum einen wird deutlich, DIE 100 Prozent gibt es nicht. Aber: Will man sich mit „nur“ 70 Prozent zufriedengeben? Was tun? Bleibe ich in meiner bestehenden Beziehung oder trenne ich mich und stürze mich in die nächste 70 Prozent Beziehung? In früheren Zeiten haben Menschen die vielen Kontakt-Möglichkeiten und die vielen anderen Optionen nicht gehabt. Mit der Erweiterung um eine virtuelle Welt entstehen nun andere Optionen, auf die wir Menschen oder unsere Gesellschaft noch keine befriedigende Antwort haben, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass wir Menschen nach dem vorherrschenden Lebensmodell monogam sein sollten.

Es drängt sich zudem noch eine weitere Frage in dieser Hinsicht auf: Wie gehen gehörlose Menschen mit dieser Situation um? Die Welt der Gehörlosen ist eher überschaubar, untereinander kennt man sich gut. Das ist schon noch anders wie in der hörenden Welt, wo gemeinsame Bekanntschaften eher zufällig sind und man unerkannt den 30 Prozent nachgehen kann, so dass man theoretisch ein 70-30-Prozent-Lebensform führen kann, ohne dass es von anderen Menschen bemerkt wird. In der Welt der Gehörlosen wird so eine Form von Doppel-Leben ungleich schwieriger.

Wenn ich an den Anfängen von Internet und Co. zurückdenke, da hätte ich mir nie träumen lassen, was wir heute erleben und worüber ich gerade schreibe. Es fehlt mir jetzt gerade die Vorstellung, was sich in den nächsten Jahren in punkto Freundschaften und Beziehungen entwickeln wird. Eines weiß ich allerdings: Unsere Kinder werden Erfahrungen sammeln, die in keinster Weise mit denen von uns zu vergleichen sind und ich will der Versuchung widerstreben, ihnen in irgendeiner Weise vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, weil ich erkenne, dass ihre Lebensform von der unsrigen erheblich abweicht. Ich wage das nicht zu bewerten und ich hoffe, ich weiß das noch in 20 Jahren, was ich hier gerade schreibe. Erinnert mich daran!

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