„Wir müssen uns nicht schämen!“

Zahlen lügen nicht! Die Statistik war eindeutig. 22:9 Torschüsse, ein Eckenverhältnis von 11:6, 577 gegenüber 401 Pässe, eine Passquote von 85,8%. Diese Zahlen zeigen eine klare Dominanz von Bayern München gegenüber Real Madrid. Dennoch war Bayern aus dem Fußball-Halbfinale der so wichtigen Champions League ausgeschieden. Wieder einmal. Was war passiert, wie konnte das sein? „Im Fußball sind Glück und Pech nah beieinander“, resümierte unmittelbar nach dem Spiel der Spielführer der Bayern, Thomas Müller. Er sagte dann aus meiner Sicht einen bemerkenswerten Satz: „Wir müssen uns nicht schämen.“ Wie bitte? Ein weltweit anerkannter und einer der besten Spieler Deutschlands sagt das? Wir müssen uns nicht schämen? Erstaunlich!

Warum schreibe ich das? Wir leben in Deutschland, unser Land ist weltweit bekannt für Qualität „Made in Germany“, wir sind nicht nur Weltmeister im Fußball, sondern auch im Export. Im Ausland verneigt man sich vor der Präzision unserer Fußballspieler wie auch unserer Maschine. Man bewundert die Ausdauer und Langlebigkeit, die Beständigkeit und Härte, unsere hohe Genauigkeit von Abläufen und Prozessen, von der ausgezeichneten Zuarbeit und Abstimmung – nahezu in allen Bereichen. Es gilt nicht nur für Fußball, Maschinen, sondern auch für unseren Verkehr, für unsere Logistik und noch vieles mehr, was Menschen weltweit an uns Deutschen bewundern. Es ist nahezu Perfektion, was hier durchschimmert.

Das Besondere ist: Deutschland hat nahezu keine Rohstoffe! Wir müssen alles aus anderen Ländern nach Deutschland importieren, was wir benötigen, um es zu verarbeiten, um es zu veredeln und um nachhaltige Produkte zu entwickeln, welche wir mit hohen Erträgen in die Welt exportieren. Unser Rohstoff, das sind die Köpfe der Menschen. Mit ihrem Wissen schaffen die hier lebenden Menschen eine solche Veredlung. Das beruht auf eine gute Qualifikation von klein auf – wie auch auf eine hohe Leistungsbereitschaft der Menschen hierzulande. Wir sprechen gerne stolz von einer Leistungsgesellschaft.

Wenn auch alles positiv und nach Hochglanzbroschüre klingt, es gibt eine Kehrseite. Menschen, die nicht so leistungsfähig sind, rutschen an den Rand dieser Gesellschaft und können nicht an deren enormem Wohlstand teilhaben. Es sind scheinbar nicht wenige Menschen, die sich abgehängt fühlen. Das zeigen die Zahlen der Wähler, welche sich den gemäßigten Parteien ab- und den extremen Parteien zuwenden. Es ist verrückt! Einerseits wird unsere Gesellschaft immer wohlhabender, aber der gestiegene Wohlstand kommt bei immer weniger Menschen an. Auch behinderte Menschen gehören zu den sogenannten Verlierern einer reinen Leistungsgesellschaft. Denn sie können nicht mithalten und werden nur dank einer großzügigen Haltung der Leistungsgesellschaft mitgetragen, weil man ja „sozial“ eingestellt ist und sich „solidarisch“ mit den schwächeren Mitgliedern seiner Gesellschaft zeigt. So erhalten diese gönnerhaft Mittel von unserem Staat, um zumindest ein Existenzminimum sichern zu können und so auch niemand in diesem, unserem Staat verhungern muss.

Es wird allerdings ein wesentlicher Aspekt übersehen: So lange der Glaube vorherrscht, dass wir nur über eine starke Leistungsgesellschaft und durch einzelne wenige, aber enorm starke Leistungsträger uns einen solchen Wohlstand sichern können und damit auch in Kauf nehmen, dass wir Menschen haben, die da nicht mithalten können, sprich Ränder entstehen und bleiben, so lange werden diese immer auf das Wohlwollen der Leistungsfähigeren angewiesen sein. Man kann hier getrost von einem „Kollateralschaden“ in unserem Wirtschaftssystem sprechen, man nimmt das als (kleinen) Nachteil einer starken und funktionierenden Leistungsgesellschaft hin.

Was ich nun spannend finde: Wenn nun aber die leistungsstärksten Mitglieder unserer Gesellschaft begreifen, dass offenbar selbst mit äußerster Willenskraft und bestmöglicher Qualifikation Erfolge nicht zu 100 Prozent planbar sind und man eingestehen muss, dass demnach dennoch auch ein Stück Glück dazugehört, dann ist das schon ein bemerkenswerter Vorgang. Es zeigt, dass nur Millimeter über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Wenn eine solche Erkenntnis greift und breite Kreise zieht, dann kehrt auch die Erkenntnis ein, dass selbst ein absoluter Wille und eine hochgradige Erfolgsorientierung nicht immer zum gewünschten Ziel führt, und es auch einen Platz für einen zweiten oder gar nur dritten Rang geben muss. Denn diese sind ja nur um Nuancen schlechter, aber haben sie deswegen schon ihr Leben verwirkt? Es wird Zeit, dass wieder mehr Demut und Bescheidenheit in unsere Gesellschaft einkehrt und auch leistungsschwächere Mitglieder eine Chance für ihre Daseinsberechtigung in unserer Gesellschaft erhalten und ihr Wirken und ihr Beitrag als wichtiger Bestandteil für das Gelingen unserer Gesellschaft anerkannt wird.

Es sind eben oft nur Nuancen im Leben eines Menschen, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Wenn ich dann dennoch sagen darf: „Ich habe alles versucht, was in meinen Kräften und Möglichkeiten stand, mehr ist mir nicht gelungen …“ Ich mich dafür nicht schämen muss und mein bescheidener Anteil oder Betrag dennoch dafür sorgt, dass ich mich als vollwertiges Mitglied einer starken Gesellschaft fühlen darf. Dann haben wir eine Gesellschaft, in der mehr Menschen eine lebenswerte und -würdige Daseinsberechtigung besitzen und die Ränder unserer Gesellschaft schmaler werden lassen.

Insofern bin ich Thomas Müller für seine Worte sehr dankbar. Es ist ein großer Akt von Menschlichkeit, so etwas zu sagen und öffentlich zu bekennen, dass selbst die besten und professionellsten Leistungsträger auch nur Menschen sind. Das ist wichtig. Wir sind alle „nur“ Menschen und vor dem Gesetz alle gleich. Der Fußballer Thomas Müller öffnet damit vielen Menschen eine Tür, durch die sie wieder einen Weg zurück in unsere Gesellschaft finden können. Er sagt damit auch, dass es mehr im Leben als nur das bedingungslose Streben nach Erfolg gibt. Es ist schön zu wissen, dass auch andere Aspekte als das reine Gewinn- oder Erfolgsstreben einen Wert besitzen, und wenn es nur dieser Satz ist: „Ich schäme mich nicht.“

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