Meine Entscheidung, vor 17 Jahren aus dem heimatlichen Gefilde von Frankfurt nach Hamburg zu ziehen, war eine tiefgreifende. Nicht nur, dass ich ein gewohntes Umfeld verließ, sondern auch, weil ich mich beruflich komplett neu orientierte, mich entschied, mich selbständig zu machen.
Hamburg war für mich wie ein Druck auf den RESET-Knopf, alles auf Neu setzen. Ich lernte ein neues Umfeld kennen, viele neue Freunde und Bekanntschaften kamen hinzu. Komplett neu für mich war aber auch, dass ich nun mit Menschen zusammen kam, die ich bisher weit weg sah und mehr zu denen „da oben“ wähnte: Gehörlose, die politisch aktiv waren, die als Funktionäre in diversen Verbänden arbeiten.
Der Deutsche Gehörlosen-Bund (DGB) war mir zwar ein Begriff, von der neu gewählten Präsidentin Gerlinde Gerkens hatte ich auch mal gelesen, aber richtig etwas vorstellen konnte ich mir nicht darunter. Politische Arbeit, das klang irgendwie nach einer ganz anderen und auch sehr komplizierten Welt. Dunkel erinnerte ich mich noch an die Demonstration 1993 auf den ersten Kulturtagen. Dort reihte ich mich ein, trillerte auch laut auf der Pfeife und sah die erschrockenen Blicke der hörenden Passanten auf der Straße. „Recht auf Gebärdensprache“ schrien wir im Chor und lauschten dann auf dem Rathausplatz in Hamburg einer eindrucksvollen Rede des damaligen DGB-Präsidenten Ulrich Hase.
Nun war ich hier, mitten drin und lernte Menschen wie Thomas Worseck oder Alexander von Meyenn kennen. Ich war erstaunt, dass sie sich herab ließen und auch mit mir gebärdeten. Was war ich beeindruckt und stolz! So wie es mir damals erging, so geht es sicherlich heute noch vielen Gehörlosen. Die Funktionärstätigkeiten bei den Landesverbänden wie auch beim DGB umweht eine geheimnisvolle Aura, welche viele beeindruckt. Woran liegt das? Liegt es daran, dass viele Politik für ein nicht verständliches Thema halten oder liegt es daran, dass die Funktionäre oder Politiker so arbeiten, dass man es nicht verstehen kann? Oft erfährt man von anderen Gehörlosen, dass sie sich über viele Entscheidungen wundern und nicht nachvollziehen können, warum das so entschieden wurde. Zudem gibt es Verwunderung, dass bestimmte Themen nicht angegangen werden oder nicht so, wie erwartet.
Im Zusammenhang mit dem nun erlassenen Bundesteilhabegesetz (BTHG) konnte man das gut sehen. Während man in den Sozialen Medien eifrig diskutierte und ellenlange Wunschzettel austauschte, konnte man von den Aktivitäten der Verbände wie dem DGB kaum etwas erfahren. Ab und an lüftete der DGB seinen Schleier und gab sporadisch Informationen, oft weil es in den Sozialen Medien lauthals Beschwerden gab, dass man nicht erkennen könne, was hinter den politischen Kulissen wirklich passiere und ob denn der DGB wirklich an der Sache dran sei.
Diese Form der Kommunikation kann viele Gehörlose oft nicht mehr befriedigen, weil sie durch die heutigen Technologien und die Sozialen Medien eine andere Form und auch andere Geschwindigkeiten gewohnt sind. Es sieht so aus, als ob sich hier etwas auseinander entwickelt: Auf der einen Seite die Basis der vielen gewöhnlichen Gehörlosen, die inzwischen alle ein Smartphone haben, in Facebook sich in vielen Diskussionen reiben, auf der anderen Seite der ehrwürdige DGB, der in diesem Jahr sein 90-jähriges Jubiläum feiert und auf eine lange Tradition zurück blicken kann.
Wenn wir einmal zurück schauen in das Jahr 1927, als das gesamte Gebilde entstand, was hatten wir da? Es gab viele kleine Ortsbünde, die ihre Vertreter in die überregionalen Verbände gesandt haben, welche wiederum Vertreter an die Bundesversammlung entsendeten und welche letztlich aus ihren Reihen dann ein Präsidium samt Präsidenten bestimmten, welcher über alles wacht und zu entscheiden hat. Das System gleicht einer Pyramide mit breiter Basis unten bis nach oben zu einer einsamen Spitze, welche von der Position und auch der Machtfülle einem Gottkönig gleich kommt.
Man mag jetzt einwenden wollen, dass das eine übertriebene Metapher sei. Aber schauen wir doch mal genauer hin und seien wir einmal ehrlich zu uns selbst: Wie ist das bei den meisten Gehörlosen und Schwerhörigen? Viele von ihnen haben keine gute Schuldbildung genossen, waren immer in einer gewissen Abhängigkeit und auf andere angewiesen, nicht wirklich frei in ihren Entscheidungen. Das führt zu einem mangelnden Selbstbewusstsein und zu unterwürfigem Verhalten. So gesehen ist man es gewöhnt, einer Befehlskette von oben nach unten zu folgen und fast schon widerspruchslos anzunehmen, was von ganz „oben“ kommt. In vielen Sitzungen und Versammlungen erlebe ich immer wieder ein fast lemmingartiges Verhalten und staune über diese Form von „Gehorsam“.
Der „einsame“ Mensch vorne an der Spitze kann sich fast schon in aller Form austoben, wie er will und es ist interessant zu beobachten, wie sich sich Menschen da „oben“ so verändern. Selbst scheinbar harmlose Zeitgenossen verwandeln sich in machtbesessene Choleriker, die offenbar sämtliche Empathien verlieren. Das Amt macht sie offenbar unantastbar. Das geht sogar soweit, dass die „Untertanen“ von einer kollektiven Schuld sprechen, wenn Fehler eintreten und Kontrollmechanismen ausgehebelt werden.
Diese Zuspitzung auf eine Person überfordert im Prinzip jede Person, die das Amt annimmt. Die Anforderungen an den Einzelnen sind massiv gestiegen. Was früher noch der Einzelne bewältigen konnte, schaffen heutzutage nur noch eingespielte Teams. Das gilt vor allem für unsere heutige, schnelllebige Zeit mit den unterschiedlichen Anforderungen wie auch mit vielen neuen Kommunikationskanälen, welche auch Gehörlosen Nutzen bringen.
Was früher mühsam von Angesicht zu Angesicht übermittelt wurde, geht heute in Sekundenschnelle und erreicht viele. Während also der DGB mit seinen Mitgliedsverbänden seine Tradition über die Jahrzehnte gepflegt hat und von einigen wenigen Auserwählten bestimmt wird, hat sich sein gesamtes Umfeld außerhalb des Systems massiv verändert. Der ehemals kleine Gehörlose ist heutzutage wesentlich besser informiert, kann besser kommunizieren und entsprechend steigen seine Ansprüche und Erwartungen. Aber es sind ja nicht nur die Technologien, die für Veränderungen sorgen.
Auch die Politik hat sich über die Jahrzehnte verändert. Vom Kaiserreich über ein kurzes Intermezzo der Weimarer Republik und der horrenden Nazi-Diktatur genießen wir in Deutschland seit über 70 Jahren eine Demokratie mit ausgeklügeltem Wahlsystem und verschränkter Gewaltenteilung, so dass eine Machtfülle auf wenige Personen nicht mehr gegeben ist und eine Partizipation der Bürger ausdrücklich gewünscht ist.
Unsere heutigen Technologien sorgen inzwischen auch dafür, dass neben den Medien als vierte Gewalt auch dem einzelnen Bürger mehr und mehr Möglichkeiten der Beteiligung und Mitbestimmung entstehen. Alles das ist am bestehenden System des DGB vorbei gerauscht und erklärt einen Teil der großen Krise beim DGB unter dem letzten Präsidenten. Es wurde zwar jetzt als Folge dieser Krise ein Gremium gegründet, welches sich um die künftigen Veränderungen und Strukturen kümmern soll, aber bislang gibt es dazu noch keine Ergebnisse.
Nüchtern betrachtet haben wir also noch Strukturen wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten und es ist beim Reformeifer des jetzigen Präsidiums nicht damit zu rechnen, dass sich da so schnell was ändern wird. Für die vielen Gehörlosen am Fuße der Pyramide sind das zunächst keine erfreuliche Aussichten. Sie sind diesem Prozess aber nicht hilflos ausgeliefert. Es reicht aber auch nicht, einmal auf eine Demo zu gehen oder ein paar Messages in Facebook zu veröffentlichen. Es ist jetzt an der Zeit, selbst die Ärmel hochzukrempeln, sich direkt an den Prozessen zu beteiligen, auf die Mitglieder-Versammlungen der Landesverbände zu gehen und ihre Recht an Mitbestimmung einzufordern und wahrzunehmen. Nutzt diese Chancen!
Kommentar verfassen