Deaf Akademiker – Probleme nur im beruflichen Bereich?

Beim letzten Mal habe ich geschildert, mit welchen Problemen gehörlose Akademiker im beruflichen Bereich zu kämpfen haben und wie man einige Probleme lösen kann.

Gehörlose Akademiker haben aber nicht nur im beruflichen Bereich Probleme, sondern oft auch auf privater Ebene. Warum? Es ist für sie sehr schwer, gleichgesinnte Freunde zu finden. Freunde, die ähnliche Interessen und Neigungen haben, die man bspw. über das gemeinsame Studium kennen- und schätzen gelernt hat und die dann in eine lebenslange Freundschaft mündet. So etwas habe ich bei vielen (hörenden) Kollegen erlebt.

Ich persönlich kenne es so nicht und war da zuweilen schon neidisch. Das gilt ja besonders, wenn man ein Studienfach gewählt hat, das eher ungewöhnlich für Gehörlose ist, wie bspw. bei mir das Studium zur Betriebswirtschaftslehre (BWL). Nicht nur, dass es so gut wie keine gehörlose BWL-Studenten gab, sondern auch, dass BWL-Studenten weniger empathisch und offen waren für andere, behinderte Studenten sind und was mir persönlich zu schaffen machte.

Gebärdensprach-Dolmetscher hatte ich keine, Mitschriften waren schwer von den Professoren oder Kommilitonen zu bekommen, so dass Vorlesungen oft wenig ergiebig für mich waren und man dann eher von zu Hause aus lernte. So war ich dann oft auf mich alleine gestellt, was meine Studenten- und auch später meine berufliche Laufbahn anging. Im Prinzip habe ich meine persönliche und fachliche Entwicklung nur über Fachbücher aufgebaut, weniger über Vorlesungen oder Seminare.

Was ich auch erst viel später begriffen und erkannt habe: Ein wesentliches Ziel des Studiums ist es, ein breites Netzwerk über die Kontakte aus dem Studium aufzubauen, die einem später auch bei der beruflichen Karriere weiterhelfen können. Viele diese Kontakte entstehen nebenbei, bei Small-Talk in den Pausen, auf Parties, in Kneipen. Wie will man hier Freundschaften aufbauen, wenn man kaum etwas versteht? Gebärdensprach-Dolmetscher abends in einer Bar, dunkel und rauch-geschwängert? Undenkbar!

Was ich hier aus dem studentischen Milieu beschreibe, setzt sich im beruflichen Bereich mit Kollegen fort. Auch hier setzen die kommunikativen Einschränkungen schnell Grenzen, wenn es darum geht, zu Kollegen Freundschaften oder zumindest Austausch und Akzeptanz auf Augenhöhe zu bekommen. So gesehen ist es für Gehörlose oft schwer, intensive Kontakte zu anderen vermeintlich Gleichgesinnten zu bekommen, was auch Auswirkungen auf die eigene berufliche Karriere hat. Bislang schaffen es nur ganz wenige Gehörlose trotz ihrer Qualifikation über den Status eines besseren Sachbearbeiter hinaus zu kommen, weil ihnen die informellen Informationen wie auch die richtigen Kontakte fehlen. Wie ich schon beim letzten Male beschrieben habe, ist es hier wichtig, dass man mit klugen Handlungen auf sich aufmerksam macht und das vermeintlich eigene Handicap in positive Akzente für alle umsetzt.

Wenn nun von beruflicher Seite es oft schwierig ist, Freundschaften zu pflegen, wie sieht es dann im privaten Bereich aus? Die meisten Gehörlosen waren auf Gehörlosen- und/oder Schwerhörigen-Schulen und haben dort viele Kontakte zu anderen Gehörlosen. Bei den meisten Gehörlosen bleiben diese Kontakte erhalten, wenn man sich in Vereinen oder bei vielen der Parties oder privaten Feiern wieder trifft. Gehörlose sind gerne unter sich und schnell stellen sich dann auch überregionale Kontakte ein, die weit über die eigene frühere Schulen hinaus gehen. Man ist gerne unter sich und teilt diesen Erfahrungsschatz.

Gehörlose, die studieren oder bereits Akademiker sind, haben einen anderen Erfahrungsschatz. Sie merken es und auch die anderen Gehörlosen, die nicht studiert haben merken, dass „etwas“ anders ist. Einerseits ist es faszinierend, dass es nun doch Gehörlose gibt, die studieren, andererseits ist auch unheimlich. Faszinierend, weil etwas passiert, was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war: Gehörlose können studieren. Unheimlich wird das Ganze, dass diese akademischen Gehörlosen mehr wissen, auch anders argumentieren und handeln. Und sich damit scheinbar von den gewöhnlichen Gehörlosen unterscheiden, auch entfernen, weil sie „anders“ sind. Sie kommen ihnen plötzlich abgehoben vor, besserwisserisch, nur weil sie studiert haben. Ein akademisch gebildeter Gehörloser würde das so nicht gelten lassen, spürt aber auch das Unbehagen der anderen Gehörlosen, das scheinbare Entfremden der akademischen Gehörlosen von den gewöhnlichen Gehörlosen. Hinzu kommt auch das eigne Bedürfnis, sich auch über eher für Gehörlose untypische Themen unterhalten zu wollen und findet nur wenig Einklang mit seinen frühen Freunden und Schulkameraden, weil er inzwischen einen weiteren Horizont hat als diese. Umgekehrt denkt manch einer der Freunde, dass er im Vergleich zu seinem akademischen Freund zurück geblieben ist und hat vielleicht auch ein schlechtes Gewissen, dass man es selbst nicht so weit gebracht hat. Hier tut sich eine Kluft auf, die beide Seiten spüren. Für akademisch gebildete Gehörlose besteht nun die Herausforderung, einerseits so zu sein, wie alle anderen Gehörlosen, um nicht aufzufallen oder als sonderbar zu gelten, anderseits schwingen in einem Bedürfnisse, die sich nicht mit denen der Anderen vereinbaren lassen. Was tun?

Viele von den akademisch gebildeten Gehörlosen versuchen sich dann in das Gemeinwohl der Gehörlosen einzubringen, in dem sie Ämter in den Vereinen übernehmen oder auch, in dem sie sich selbständig machen. Sie wollen ihre besonderen Fähigkeiten in den Dienst der Gehörlosen-Gemeinschaft einbringen. Oft aber werden sie von den gewöhnlichen Gehörlosen misstrauisch beäugt und ihnen wird unterstellt, sie seien nur auf eigene Vorteile aus. Anstatt sich darüber zu freuen, dass höher gebildete Gehörlose sich bereit erklären, etwas für die Gemeinschaft zu tun und sich mit ihrer Kompetenz einzubringen, werden sie eher gemieden und ihnen wird alles Mögliche unterstellt, was der Gemeinschaft angeblich schadet.

Für akademisch gebildeten Gehörlose ist das ein schweres Los. Mit hörenden Gleichgesinnten kommen sie aufgrund der Kommunikationsbarrieren nicht zusammen, von den eigenen Leuten werden sie auch nicht so akzeptiert, wie sie sind. Für die Gehörlosen-Gemeinschaft ist das ein Dilemma, denn sie entwickelt sich nicht weiter, weil sie ihre eigenen hoch-potentiellen Leute nicht gelten lässt und sie herunterzieht. Im Amerikanischen hat sich hier der Sprachgebrauch von der „Krabbentheorie“ heraus gebildet. Auch Krabben in einem Wasserbassin ziehen anderen zurück in das Becken, so dass letztlich keiner der Krabben überleben kann. Ist es das Schicksal der Gehörlosen-Gemeinschaft, dass sie deswegen irgendwann auch nicht überleben wird?

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