zu einem „Liebes Deutschland“ kann ich mich nicht durchringen. Damit habe ich lange innerlich gekämpft. „Hallo“ klingt neutraler und natürlich auch distanzierter. Ganz bewusst. Zu viel Nähe mag ich nicht, zu viel Nähe magst auch Du nicht. Das zeigt schon eine unserer Gemeinsamkeiten. Viele wird es dann nicht mehr geben, was wir gemein haben. Denn ich sehe mich nicht als „typisch deutsch“. Aber dieses Fass werde ich jetzt nicht aufmachen und diskutiere, was denn eben typisch deutsch ist. Dazu habe ich hier zu wenig Platz. Ich bleibe lieber bei der Nähe oder besser: Bei der Distanz. Meine zu Dir. Deine zu mir.
Ich gebe zu: Ich tue mir schwer, mit Deiner Überkorrektheit, mit Deiner sturen Gewissenhaftigkeit, mit Deiner gnadenlosen Zuverlässigkeit und mit Deiner Bürokratie mit den vielen Regeln und Vorgaben, die Du uns gibst. Du wirst sagen, das braucht man. Sonst klappt unserer Zusammenleben nicht. Klappt das Zusammenleben der vielen Menschen bei Dir nicht. Das sagst Du, daran glaubst Du. Daran hältst Du fest – kühl, berechnend und gnadenlos. Gewissenhaftigkeit bezeichnest Du das. Ich sehe es mehr als Gewissenlosigkeit. Denn Du erlaubst Deinen Bürgern oder genauer: Deinen Beamten, sich hinter all diesen Regeln zu verstecken. Das vereinfacht vieles, ohne selbst darüber nachdenken zu müssen, was sie tun. Sie halten sich an den Vorgaben und freuen sich über die klaren Strukturen. Es erleichtert das Denken, werden sie sagen.
Ich sehe das mehr so: Sie müssen nicht mehr so viel denken. Strukturen und Vorgaben sind ein Deckmantel. Sie schläfern uns ein und untergraben unser kritisches Denken. Sie verführen uns zu stereotypischen Denk- und Verhaltensmustern. Und sie hebeln unsere Menschlichkeit aus. Denn rationale Vorgaben unterlassen emotionale Regungen. Du wirst sagen, das ist nötig. Sachlich, nüchtern, klar – so müssen unsere Entscheidungen sein. Kein Wenn, kein Aber. Wer das kann, der ist bei Dir sicher im Boot. Wer nicht, fällt über die Reling. Ganz so würdest es jetzt nicht sagen wollen. Aber Du handelst dennoch so. Es wird genau das getan, wie es geschrieben steht. Steht es nicht da, wird es nicht getan, ist es nicht erlaubt. Ganz einfach, oder?
Sitzt vor Dir ein Mensch, mit traurigen Augen, dann guckst Du schnell nach, wo geschrieben steht, wie zu verfahren ist. Irgendwas findest Du schon in Deinen vielen schlauen Büchern mit seinen Vorgaben. Wie geht es Dir, was fehlt Dir? Diese Fragen fallen Dir schwer. Das menschelt zu sehr. Du möchtest Dich lieber hinter Deinen Buchdeckeln verstecken und sucht krampfhaft nach Lösungen. Du meinst es sicherlich gut. Aber kannst Du wirklich alles in Regeln verpacken? Kannst Du damit wirklich allen Deinen Bürgern gerecht werden? Was machst Du mit der Vielfalt? Was machst Du mit der Unterschiedlichkeit, der UNKonformität, das was letztlich Menschen doch auszeichnet? Warum hast Du Angst davor?
Die Angst ist Deine einzige emotionale Regung. Andere Emotionen lässt Du nicht zu, Deine Ratio hat alles im Griff. Die Angst aber beherrscht Dich. Angst, nicht alles regeln und steuern zu können, nicht die volle Kontrolle zu haben, das macht Deine Gedanken ganz irre.
Ich suche Dein Herz. Es fällt mir schwer, es zu finden. Andere sagen, Du bist herzlos. Griechenland vor der Pleite. Millionen Flüchtlinge vor der Tür. Behinderte Menschen lechzen nach einem vernünftigen Teilhabe-Gesetz. Die Liste der Herausforderungen ist lang. Willst Du wirklich alles nur regeln? Meinst Du nicht auch, der Einzelne kann selbst nach Gewissen und Bauch entscheiden, das was ihm sein Herz sagst? Gib Deinen Bürger wieder mehr Verantwortung. Traue ihnen das zu! Lasse los. Befreie Dich von Deinen Fesseln. Du wirst sehen, auch Du gewinnst dabei. Sicherlich nicht an Ratio. Aber mehr an Herz und Menschlichkeit. Ist das nicht auch von Wert?“
Text ist erschienen im Buch „100 Briefe an Deutschland: Gedanken, Wunsche, Anregungen“ / Taschenbuch – 1. Oktober 2015 / Nicolai Verlag / ISBN-13: 978-3894799649
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