Netflixology – wie ein Streaming-Sender unser Leben verändert

Als ich das erste Mal von Netflix erfuhr, konnte ich mir nicht wirklich etwas darunter vorstellen. Noch ein weiterer Fernsehkanal, bloß halt über das Internet ausgestrahlt. Wer braucht denn sowas? Hier schwang auch der Frust über die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender mit, welche nur in Bruchteilen für jemanden wie mich als fast gehörlosen Menschen nutzbar sind. Der jahrelange und zermürbende Kampf mit der Vertretern der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender trug das Übrige bei. Wenige Untertitel, zumeist auch noch in grauenhafter Qualität, und keine Gebärdensprache im analogen Fernsehen. Mit Internet könnte man tatsächlich zumindest im hybriden Fernsehen Gebärdensprachdolmetscher einblenden. Aber nein, ich blieb doch lieber bei Leih-DVDs, da konnte ich mir mein Programm selbst gestalten und mich auf die Qualität der Untertitel der zumeist ausländischen Filme verlassen. 

ARGHHHH: Das öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Deutschland

Und dennoch, über das öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ärgere ich mich noch immer. Aus meiner Sicht kommen sie ihrem ihnen zugedachten, mit öffentlichen Geldern finanzierten Bildungsauftrag nicht nach, senden zu viele Inhalte, die eher seichtes Unterhaltungsprogramm sind und damit zur Volksverblödung beitragen. Die wirklich informativen und tagesaktuellen Nachrichten sind nicht sehr zahlreich und politische Sendungen kommen oft zu später Stunde und mit grauenhaften Untertiteln (Probieren Sie es aus: Ton aus und Untertitel an!).  

Schaut man über die Grenzen, bspw. nach England, dann beneide ich dort die Menschen. BBC kommt seinem staatlichen Bildungsauftrag nach und hat viele Inhalte mit hohem Bildungsanteil. Alles ist mit Untertiteln versehen und die Untertiteln sind auch richtig gut. Es gibt sogar Gebärdensprache im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (wenn auch nur fünf Prozent der Sendungen und zum Teil werden sie nachts ausgestrahlt). Das ist, was ich als interessierter Bürger vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen erwarte, zumal wir ja zu Zwangsgebühren verpflichtet sind.  

Im Kontext dessen, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Sender wie Netflix bestehen können sollte, wenn er keine tagesaktuellen Nachrichten oder politischen Sendungen ausstrahlt. Der Fokus liegt u.a. auf Dokumentarfilmen, die nahezu zeitlos erscheinen, oder Dokus, die gesellschaftliche Themen zum Teil ohne aktuellen Zeitbezug behandeln. Hinzu kommen Spielfilme, die teilweise schon etwas älter sind bzw. zahlreiche Endlos-Serien. 

Die ersten Schritte zu Netflix 

Umso mehr war ich überrascht, dass in meinem Freundeskreis die Zahl derer wuchs, die sich zu einem monatlichen Abonnement entschlossen hatten. Charme hat beim Streaming TV, dass man sich jederzeit selbst aussuchen kann, was man wann anschauen möchte. Das habe ich schon verstanden. Aber eine Sache ist in der Tat wirklich bestechend: Alles (!) wird untertitelt und die Untertitel sind von sehr guter Qualität. Ich kann wirklich auf jede Sendung tippen und Untertitel sind vorhanden. Das ist schon traumhaft, wenn man sich keine Gedanken mehr machen muss, wie ich das bspw. bei Amazon Prime öfter erlebe: dort sind eben nicht alle Sendungen mit Untertitel versehen und man kann das nur im Kleingedruckten vorab schon erkennen. Es ist mir nicht nur einmal passiert, dass ich einen Film bei Amazon gekauft und dann wutentbrannt ausgeschaltet habe, als ich feststellte, dass keine Untertitel vorhanden waren und ich das Geld zum Fenster raus geschmissen hatte. 

Das kann mir bei Netflix nicht passieren. Ich habe mir sagen lassen, dass der Unterschied darin liegt, dass Netflix wegen seiner mangelnden Barrierefreiheit in den USA vom amerikanischen Gehörlosenbund verklagt wurde, und sie seitdem alles untertiteln. Man sieht also, was in den USA geht und sich dann auch hierzulande auswirkt, vor allem in Bezug auf privatwirtschaftliche Firmen. 

Ein kleiner Exkurs: Unsere Bundesregierung glaubt leider nicht daran und verhindert eine umfassende Barrierefreiheit bei privatwirtschaftlichen Firmen, weil sie denkt, diese könnten an solchen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen  zugrunde gehen. Dass aber gerade solche Rahmenbedingungen und pfiffige Unternehmer ein noch besseres Angebot (für alle Menschen) kreieren könnten, das scheint in den Köpfen vieler Menschen unfassbar. Es wird oft übersehen, dass Lösungen für Menschen mit Behinderungen auch für Menschen ohne Behinderungen sehr komfortable Lösungen darstellen, die sie später nicht mehr missen möchten.   

Netflix inside

Aber zurück zu Netflix: Da ein monatliches Abonnement nicht wirklich teuer ist (im Vergleich zum Ausleihen von DVDs oder einem Kinobesuch), habe ich mich auch zu einem Netflix-Abo entschlossen. Im Lauf der Zeit lernte ich Netflix lieben und muss dem Mut und der Weitsicht eines Reed Hastings großen Respekt zollen, der bereits 1997 (!) Netflix als Unternehmen gründete. 

Wenn ich ehrlich bin: Ich bin inzwischen ein glühender Verfechter von diesem Fernsehkonzept und erkenne allmählich, wie stark sich mein Leben durch Netflix verändert. Ich verstehe langsam, warum viele Kinder sich heute mit dem Lesen so schwer tun. Um ein gutes Fachbuch zu lesen, brauche ich viele Stunden und Phantasie, um mir alles bildlich vorzustellen und zu verstehen. Viele Beiträge bei Netflix sind visuell so gut aufbereitet, dass man binnen kürzester Zeit sehr viele Aha-Erlebnisse hat und aus dem Staunen oft nicht herauskommt. 

Ich hätte anfangs nicht geglaubt, dass mich Dokumentarfilme über Häuser interessieren könnten. Aber dann zu sehen, wie andere Menschen in anderen Teilen der Welt leben („Die außergewöhnlichsten Häuser der Welt“), sich den besonderen Herausforderungen dort annehmen und pfiffige Lösungen entwickeln („Cabins in the Wild“), das ist dann doch beeindruckend und inspirierend („Stay here“). Ich hätte nie gedacht, dass ich mit meiner Familie in den Ferien abends zusammen sitze und wir diskutieren, wie wir unser ideales Haus einrichten könnten („Geniale Innenarchitektur“) oder zumindest eine gewisse Ordnung in unserem Haus herstellen können („Aufräumen“). Für mich persönlich als jemanden, der sich als verantwortlicher Familienvater und Unternehmer oft den finanziellen Fragen widmen muss, war es sehr lehrreich zu sehen, wie Menschen in England es schaffen, auch ohne großes Eigenkapital zum Eigenheim zu gelangen („Haus ohne Hypothek“). 

Menschliche „Experimente“ bei Netflix

Am Anfang habe ich mich noch von den exzellent aufbereiteten Dokumentarfilmen beeindrucken lassen, aber meine Faszination wechselte allmählich vom Sammeln an Faktenwissen über zu den Reality Shows, weil hier viele interessante soziale Experimente über das menschliche Verhalten zu sehen waren und sind. 

Denn neben dem Kaufmann steckt auch der Psychologe in mir, und ich finde nichts spannender, als wenn Menschen zusammenkommen und sich auf soziale Experimente einlassen. Man kann unheimlich viel daraus lernen und neue Erkenntnisse gewinnen. 

Netflix hat sich über die Jahre so gut entwickelt, dass dort nun eigene Sendungen produziert und Mut zu anderen, eigenen Formaten gezeigt wird. Im Unterschied zu unserem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeigt Netflix die Menschen, wie sie sind und nicht, wie sie einem künstlich-geschönten Idealbild der Fernsehmacher entsprechen und damit eine Scheinwelt aufbauen, die weit von der Realität entfernt ist. Es gibt viele Themen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die noch stark tabuisiert werden – oft mit dem Argument, „die Gesellschaft sei noch nicht so weit und könne die Realität nicht aushalten“. Dementsprechend sei das auch der Grund, warum die Themen Diversität, Vielfalt und Inklusion im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wenig oder sehr verzerrt zu sehen seien. Wir können anhand der Menschen mit Behinderungen sehen, wie das gehandhabt wird. Obwohl nahezu zehn Prozent der Bevölkerung von Behinderungen betroffen sind und fast jeder Mensch mit dieser „Randgruppe“ zu tun hat, sind Menschen mit Behinderungen selten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen und falls doch, dann eher als Objekt der Belustigung oder des Sonderbarens, weniger als selbstverständlicher Teil unserer Bevölkerung. Im Grunde genommen sagen uns die Fernsehmacher, wie aus ihrer Sicht unsere Realität auszusehen hat. 

Gehörlose Menschen bei Netflix

Netflix geht anders mit der menschlichen Vielfalt um. Ob nun bei sozialen Experimenten, ob in eigenen Serien oder bewusst als separater eigener Teil , Menschen werden mit ihren Stärken und Schwächen gezeigt. Nichts ist mehr makellos, und Fehler machen oft gerade den besonderen Reiz aus. Nicht im Sinne von Exhibitionismus, sondern im Sinne eines Menschen als verletzliche Kreatur der Schöpfung in seinen unzähligen Ausprägungen, die ihn besonders und liebenswert als bereicherndes Element unserer Gesellschaft werden lassen. Jeder einzelne Mensch. So haben auch Menschen mit Behinderungen ihren Platz in der Gesellschaft. 

Ich werde jetzt im Weiteren den Fokus auf gehörlose Menschen setzen, weil ich Teil davon bin und diese Form der Behinderung nicht immer offensichtlich ist. Während bei „Die Gehörlosen-Universität“ schon im Titel klar und deutlich darauf hingewiesen wird, dass es sich hier um die weltweit einzigartige Gaullaudet University handelt und Einblicke in das Leben der gehörlosen Menschen auf dem Uni Campus gegeben werden, kann man bei der Staffel von „The Society“ nur wissen, dass ein Gehörloser mitspielt, wenn man ihn auch vom Namen her kennt. Sean Berdy ist den USA inzwischen ein bekannter Schauspieler und einer der wenigen Gehörlosen weltweit, die von dieser Kunst leben können. 

In „The Society“ spielt er einen schwulen Gehörlosen, der offenbar als selbstverständlicher Teil der Jugendlichen dort gilt. Viele Personen im Film gebärden mit ihm. Ehrlicherweise muss ich aber gestehen, dass diese Form der Kommunikation in der Serie noch eher rudimentär und weniger essentiell ist. Ich kann mir vorstellen, dass Sean Berdy hier schon in einem Gewissenskonflikt steckte, da die Gebärdensprache ein wesentlicher und selbstverständlicher Teil der Sendung werden sollte,  er aber seine Schauspielkollegen nicht mit einer wirklich guten Kommunikation in Gebärdensprache überfordern konnte. Dennoch war ich schon angetan von diesem Versuch, hier ein bisheriges gesellschaftliches Problem als einen integrierten Teil selbstverständlich wirken zu lassen.  

Wesentlich subtiler und für die meisten Zuschauer nicht erkennbar ist Human #02 in „100 Menschen“. Human #02 agiert nicht wirklich auffällig und nur anhand einiger Reaktionen bzw. ganz zum Schluss der Staffel sieht man Human #02 in amerikanischer Gebärdensprache kommunizieren. Dem Anschein nach ist diese Person vollständig in die Geschehnisse eingebunden und als regulärer Bestandteil der Gemeinschaft zu sehen. 

Hören beeinflusst den Geschmack

Ich finde diese Sendung „100 Menschen“ insofern spannend, weil ich mich am Anfang gefragt habe, ob denn wirklich gute und repräsentative Aussagen über das menschliche Verhalten getroffen werden können, wenn man 100 Menschen nach allen erdenklichen Kriterien aus der (amerikanischen) Gesellschaft auswählt und dabei offensichtlich Menschen mit Behinderungen nicht berücksichtigt. Diese Frage habe ich mir verstärkt gestellt, als in der siebten Folge die Wahrnehmung über unsere fünf Sinne geprüft wurde, besonders die Wahrnehmungen über das Gehör. 

Es war spannend zu verfolgen, dass tiefe und höhe Töne eines Orchester die Teilnehmer beim Essen beeinflusst haben und die entsprechenden Geschmacksrichtungen verstärkt haben: Tiefe Töne machten bitterer, höhere Töne scheinbar süßer. Hier habe ich mich gefragt: „Und was ist mit uns Gehörlosen?” Zur Ehrenrettung der Sendung darf ich sagen, dass es eine Kontrollgruppe gab, die keine musikalische Untermalung des Essens hatte, dafür aber die Darbietungen eines Pantomimen. Das Lustige nun: Die bittersüße Schokolade schmeckte den Teilnehmern nicht mehr so bitter, eher süßer, während in den anderen Gruppen mit den musikalischen Darbietungen die Schokolade nahezu als ungeniessbar wahrgenommen wurde. Was lernen wir daraus? Hören ist nicht immer von Vorteil – vor allem nicht beim Essen! Hier drängt sich bei mir gerade der Gedanke an die musikalischen Untermalungen in manchen Restaurants auf, die zudem jeglicher Unterhaltung den Garaus machen. Aber das ist jetzt ein anderes Thema.

Die Frage nach der Daseinsberechtigung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens

Ich könnte die Liste an Erkenntnissen und Aha-Erlebnissen bei Netflix beliebig fortsetzen. Hier habe ich nur einige wenige Eindrücke wiedergegeben. Offenbar hat Netflix mit seiner Vorgehensweise den Nerv vieler Menschen getroffen und zeigt uns, dass Vielfalt zu Inklusion führt und eine bereicherndes Leben darstellt. Gleichzeitig wirft ein Sender wie Netflix verstärkt die Frage nach einer Daseinsberechtigung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf. Es muss ernsthaft die Frage gestellt werden: Von welchen Realitäten gehen die Fernsehmacher bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern aus, und was ist ihre Zielgruppe bzw. ihre Intention? 

Es erinnert mich an ein Verhalten, das man eher von kleinen Kindern kennt: Sie glauben, wenn sie die Augen schließen, sieht man sie nicht mehr. Offenbar ist Vielfalt und auch Inklusion ein Gebiet, das mit Kontrollverlust verbunden ist und die Welt verändert wird, welche man so nicht kennt. Es wird dabei völlig ausgeblendet: Das Leben in der eigenen Blase und die eigene Realität stellt nicht das Leben anderer Menschen dar. Was wir über die Medien serviert bekommen, das ist eine Welt einer privilegierten Minderheit, die der Mehrheit weismachen will, das ihr Leben das bessere und erstrebenswertere ist. Wie lange wird dieser Plan noch aufgehen? 

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